Die Geschichte eines (außer)gewöhnlichen Vladi

Vladislav Karamfilov – Vladi das Gerangel (sein Spitzname, die aus einer seinen schauspielerischen Charaktere stammt) (55), ist ein emblematischer bulgarischer Schauspieler und Regisseur, der in den frühen Jahren der bulgarischen Demokratie nach 1989 auf der Bühne auftauchte. Am 22.02.2021 besuchte er auf Einladung von Buditeli e.V. Köln und präsentierte sein Monospektakel „Die Memoiren des Gerangels“ in der Universität zu Köln.

Im Interview erzählt er uns über seine turbulente Karriere im bulgarischen Kino und Theater und seine Geschichte eines glücklichen Mannes.

Worum geht es im Theaterstück „Die Memoiren des Gerangels“?

Dieses Theaterstück stellt eine grundlegende Frage: „Ist das, was wir tun, sinnvoll?“ Wenn ich über mein Leben vor dem Publikum nachdenke, entsteht diese Frage, die sich jede/r im Raum für sich selbst beantworten soll. Mein Leben unterscheidet sich nicht von deinem Leben. Ob das Leben dich aus Bulgarien nach Deutschland gebracht hat oder du in Bulgarien geblieben bist, ob du einen Universitätsabschluss hast oder nicht, ob du Sozialhilfe brauchst oder reich bist, unabhängig vom Status, von den so genannten sozialen Unterschieden, haben wir alle genau die gleichen Aufregungen und Gefühle. Die Grundlage der menschlichen Natur bleibt dieselbe.

Wie ist die Idee für das Theaterstück entstanden? 

Der erste Grund ist, warum ich Theater mache, ist, weil ich so mein Brot verdiene. Dieses Monospektakel ist das, was ich mit minimalen finanziellen Mitteln machen konnte, nämlich „Die Memoiren des Gerangels“. Ich benötige nur einen Bildschirm, einen Laptop und mich selbst. In Bulgarien sind wir eigentlich zu zweit mein Partner Verislav Dimitrov – Ferdi, in Österreich und Deutschland – Peter Georgiev. Diese „Show“ ist so gestaltet, dass sie sowohl in einem Keller, als auch auf einem Platz und in einem Stadion aufgeführt werden kann. Äußerst mobil, äußerst unterhaltsam. 

Für mich gibt es einen Faktor, der bestimmt, ob eine Sache gut ist. Das ist, wenn das Publikum im Theater und im Kino die Zeit nicht spürt. Letztes Jahr z.B. wurde die Aufführung in Wien von 600 Leuten besucht und dauerte vier Stunden. Mein Spektakel ist eine Mischung aus Stand-up-Comedy, Theater, Talk mit Elementen von Drama, Sketch und Satire.

Gibt es Begebenheiten in deinem Leben, die so ungeheuerlich oder absurd sind, dass du sie nicht mit dem Publikum teilen würdest? 

Nein, es gibt keine solchen Ereignisse. Alles, was mir passiert ist, kann jeder/m anderen passieren. Ich habe Erfolge und Misserfolge. Manche von meinen Erfolgen grenzen wirklich an Heldentaten, deshalb fällt es mir schwer, darüber zu sprechen. Ich kann sehr gut von den Zeiten erzählen, in denen ich der Narr oder der lächerliche Mensch war. Über solche Geschichten lachen die meisten. Wenn du ein Buch oder eine Geschichte liest, wenn du einen Film oder eine Oper siehst – all dies ist ein Ausschnitt aus dem Leben eines Menschen. Kennen Sie Schwejk? („Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“, Roman von Jaroslav Hašek aus den Jahren 1920-23, Anm.d.Red.) Er stellt ein kollektives Bild dar, denn es gab solche Leute. Mein Leben ist paradox, weil ich zu den populären Menschen in Bulgarien gehöre, aber wir alle Leute sind gleich. Für mich bedeutet das, dass, wenn ich dir von mir erzähle, reflektierst und analysierst du dich selbst.  

Was für einen Preis hast du bezahlt, um deine Träume zu verwirklichen? War sich das wert?

Als ich die TV-Serie „Shmenti Capelli: Die Legende“ (aus dem Bulgarischen: Pseudohüte) in 2011 drehte (Vladi hat dabei Regie geführt und die Serie zunächst selber finanziert, Anm.d.Red.) und der Fernsehsender TV7 (ehemaliger bulgarischer Fernsehsender, Anm.d.Red.) zwei Wochen vor meiner Bezahlung insolvent gegangen ist, hatte ich einige Leute wie Schauspieler/innen und Produktionshelfer/innen bereits bezahlt. So bin ich auch pleite gegangen und aus dem Nichts sozial schwach geworden. Ich hatte hohe Schulden in Millionenhöhe. Ich hatte nicht einmal das Geld, um meine Wohnungskosten wie Strom zu decken… 

Und trotzdem fühlte sich all dies wie ein riesiges Glück und wie eine Kraft an, weil ich meinen Traum in Erfüllung gebracht hatte. Hier handelt es sich um das negative Ergebnis eines Projekts, das seinen tollen Zweck erfüllt hat, erfolgreich umgesetzt wurde und ein gesellschaftlich bedeutsames Produkt in Bulgarien geworden ist. Was geschah mit der Person, die diese Initiative erfüllt hat? Er ging direkt in die Mülltonne… Die Leute sagten: „Ach, der arme Kerl!“ Im Gegenteil, ich bin der Typ, dessen Humor alle großartig fanden und der in der Geschichte geblieben ist. So hat mir Gott etwas geschenkt und dafür bin ich dankbar. Ich bin glücklich.

Wie schwierig ist es, in Bulgarien Filmproduzent und Drehbuchautor zu sein? 

Das ist bereits unmöglich. Was ich damals gemacht habe, können sich nur superreiche Leute leisten, deren Hobby das Kino ist. Die andere Möglichkeit sind staatliche Subventionen, aber damit ist es zu einfach. Viele streiten sich sogar darüber, wer sie bekommen soll usw. Der Staat gibt Kinoproduktionen Geld nur, damit es überhaupt bulgarisches Kino gibt. Mit Ausnahme von fünf Filmen in den letzten 20 Jahren gibt es jedoch keine erfolgreichen bulgarischen Filme (Stand des Interviews: 22.02.2022, Anm.d.Red.). 

Aber warum wird Geld für einen privaten Film überhaupt ausgegeben? Der erste Grund ist, um Geld zu verdienen, aber das kann nur geschehen, wenn der Film für den internationalen Markt bestimmt ist. Aber solche Filme werden der Problematik der bulgarischen Gesellschaft nicht gerecht. In Großbritannien sieht man meinen Film „Operation: „Pseudohüte““ und denkt sich „Hm, interessante Absurditäten“. Die Menschen da können aber nicht begreifen, dass es sich um die Realität handelt, die durch absurde Situationen erzählt wird. Der zweite Grund ist, dass man sich unbedingt wünscht, dass dieser Film existiert. In manchen Fällen Menschen finanzieren einen Film, um die Wahrheit durch ihre Perspektive zu zeigen. Ich wollte eine Geschichte über mein Volk erzählen und mit dem Film die langweiligen bedeutungslosen Plots im bulgarischen Kino durchbrechen. Daher war für mich dieser Film mein größter Erfolg – ich habe eine traurige Geschichte auf eine lustige Weise erzählt.

Gab es einen Zeitpunkt, an dem du Bulgarien verlassen wolltest?

Es gab nie einen solchen Moment. Ein solcher Gedanke schlich sich nur in meiner Kindheit und frühen Schulzeit ein. Als Kind habe ich davon geträumt, in den USA Lastwagenfahrer zu werden. Aber dann, bereits in der sechsten Klasse wollte ich Schauspieler werden. In NATFIZ (Nationale Akademie für Theater- und Filmkunst in Sofia, Anm.d.Red.) studieren anzufangen, war eine große Herausforderung, und ich habe mich besonders darum bemüht. Ich habe nie darüber nachgedacht, Schauspieler im Ausland zu werden, weil ich diesen Defekt habe, ich weiß nicht, ob man das Legasthenie nennt… Ich kann mir keine Wörter in anderen Sprachen merken. 

Dazu bin ich auch sehr früh in Bulgarien bekannt geworden. Ich war erst im zweiten Studienjahr an der NATFIZ, als ich plötzlich zu den erkennbaren Personen auf dem Fernsehbildschirm gehörte. Einer derjenigen, die die Leute dazu brachten, nach Hause zu kommen, um fernzusehen. Warum nach etwas in den USA, in England oder woanders suchen, wenn ich es schon in Bulgarien hatte?! Ich bin mehrmals um die Welt gereist und staune immer wieder darüber, dass es überall dasselbe ist. Natürlich gibt es manche sozialen Unterschiede, aber das Leben ist heute überall identisch.

Leben dMn die Bulgar/innen im Ausland oder in Bulgarien besser?

Ich möchte wirklich etwas Gutes über Bulgarien sagen, über die Bulgar/innen… Ich möchte es wirklich sehr… Ich habe wirklich Angst, dass mir etwas Schlimmes passiert, weil ich es nicht kann… (lacht) Denn, abgesehen von dieser Katastrophe mit den Schulden (s. oben), ist doch alles Gute, das ich in meinem Leben getan habe, zu mir zurückgekommen. Das Leben in Bulgarien ist hart, das wisst ihr alle. Ich würde sogar sagen, es sei nachgewiesen, dass 90 % der Bulgar/innen in totalem Stress leben. Die restlichen zehn Prozent leben im Ausland. (lacht) Andererseits haben sie aber einen niedrigeren sozialen Status als die Leute in der Heimat… Und obwohl sie weniger akzeptiert sind, leben sie entspannter und wollen nicht mehr zurück. Jeder Mensch ist für sein eigenes Verhalten verantwortlich und ist selber der Grund dafür, warum sie/er sich glücklich oder unglücklich fühlt. 

Was kann eine begabte Person daran hindern, sich zu entwickeln?

Warum wird Talent durch Mittelmäßigkeit bereits im Keim vernichtet? Weil Talent eine Bedrohung für den mittelmäßigen Menschen ist. Wenn jemand auf der Bühne keinen Erfolg hat, startet sie/er eine Bürokarriere. Es führt dazu, dass diese Person die Regeln festlegt und die begabten Leute überwacht. Es ergibt sich so die Möglichkeit für die unbegabten Menschen, sobald sie irgendwo einen kleinen Schimmer von Begabung entdecken, diese ohne Probleme zu f*cken, weil der talentierte Typ eine Bedrohung für sie darstellt. Dazu ist der talentierte Teil der Bevölkerung stets der kleinere Anteil. Mittelmäßigkeit regiert. Sie ist ansteckend, überall auf der Welt, weil die Untalentierten solidarisch miteinander sind. 

Andererseits sind die meisten Talente neidisch. Die begabten Menschen sind egozentrisch und wollen einen individuellen Sonderstatus haben. Aus diesem Grund, sind die Begabten eher Feinde. Und Gott sei Dank ist das so, sonst wird es auf der Bühne nur Liebe geben und das Publikum wird sich langweilen. Wenn es Spannung gibt, dann gibt es auch Ohrfeigen und Action, es wird geflucht, und die Zuschauer/innen sind von der Show begeistert.

Du bist bekannt für deine politische Satire. Ist die Politik in Bulgarien eine Show? 

Politik ist eine Show überall auf der Welt. Jedoch Politiker/innen tragen eine riesige Verantwortung. Politik wird dagegen spontan geschrieben. Während man denkt, man selbst sei der/die gute, positive und erfolgreiche Held/in, kann sich plötzlich herausstellen, dass man der Schurke ist oder einfach nur aufgedeckt wird, weil es keine ehrlichen Politiker/innen gibt. Die Politik ist ein Ort für Interessen, kein Ort für gute Menschen. Das ist das System, in dem wir leben, und wir sind dazu „verpflichtet“, so weit wie möglich zu versuchen, es ins Gleichgewicht zu bringen. Wenn es keinen Tag gibt, wie kann man dann wissen, was Nacht ist? Wir erleben wirklich einen Augenblick. Man blinzelt nur und schon ist alles vorbei.

Hast du es geschafft, das Leben zu verändern, oder hat dich das Leben verändert?

Man kann das Leben nicht ändern. Ich glaube, dass alles, was passiert, bereits geschehen ist. Die Zeit ist der einzige Faktor, der verhindert, dass alles zur gleichen Zeit geschieht. Irgendwie wissen wir unbewusst, was auf uns zukommt. Es ist kein Zufall, dass unterbewusst sehr starke Ängste auftauchen. Aber irgendwie, wenn das Ereignis eintritt und die Angst sich als unnötig herausstellt, wird einer/m klar, woher man das wusste. Es gibt viele unfassbare Dinge um uns herum, die wir nicht sehen, weil wir sie einfach nicht erkennen können.
Bei der Fußballweltmeisterschaft 1994 in den Vereinigten Staaten war ich zum Beispiel vor Ort dabei und habe mir gesagt, die Weltmeisterschaft fände nur wegen mir statt. Eineinhalb Jahre später sah ich einen Dokumentarfilm über das Finale Brasilien-Italien. Leute überall auf die Welt wurden dabei gefilmt – in allen Ländern, auf den Plätzen, in den Hotels, in ihren Wohnungen, auf Schiffen – wie sie das Spiel sekundenweise, minutenweise verfolgten. Mehrere Milliarden Menschen, haben denselben Moment erlebt. Sicherlich waren die Emotionen unterschiedlich, aber sie bezogen sich auf dasselbe Thema – das Spiel, und niemand ahnte etwas von deiner Existenz. Und mein Gott, jeder Mensch denkt, die Welt würde sich wegen ihr/ihm drehen. Und dass sie/er, wenn nicht heute, dann morgen oder in fünf Tagen zur/m Milliardär/in wird. Wenn nicht heute, dann morgen oder in einem Jahr, wird er eine/n Partner/in treffen, mit dem er Kinder haben wird und ein gemeinsames Leben führen wird. Vielleicht sind solche Gedanke auch notwendig, damit es Fortschritt gibt. In diesem Moment habe ich Demut empfunden, weil mir etwas klar geworden ist: „Du bist eigentlich ich und ich bin eigentlich du“. Seitdem mache ich mir nur Gedanken darüber, welche Folgen dies für alle anderen haben wird. 

Produktion: © 2021 ASPEKTA
Text: Ivan Arichinkov
Fotos: Vladislav Terziev

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Ivan Arshinkov
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